Russland ist nicht die Sowjetunion

Jul 1, 2021
admin

Ein offensichtlicher Unterschied zwischen der Sowjetunion und Russland besteht darin, dass die sowjetische Regierungselite den Marxismus-Leninismus und sein Ziel der Weltrevolution angenommen hat. Das heutige Russland ist keine messianische Macht. Sein Wirtschaftssystem ist eine eher banale Variante des korrupten Vetternkapitalismus, kein rigider Staatssozialismus. Das politische System ist eine konservative Autokratie mit Aspekten einer manipulierten Demokratie, keine Einparteiendiktatur, die keinerlei Widerspruch duldet.

Russland ist kaum eine Demokratie westlicher Prägung, aber es ist auch keine Fortsetzung des entsetzlich brutalen Totalitarismus der Sowjetunion. In der Tat unterscheidet sich die politische und soziale Philosophie des Landes deutlich von der seiner Vorgängerin. So hatte die orthodoxe Kirche während der Sowjetära keinen nennenswerten Einfluss – was angesichts der offiziellen atheistischen Politik des Kommunismus nicht verwunderlich war. Heute jedoch hat die orthodoxe Kirche in Putins Russland einen beträchtlichen Einfluss, vor allem in sozialen Fragen.

Unter dem Strich ist Russland eine konventionelle, eher konservative Macht, während die Sowjetunion eine messianische, totalitäre Macht war. Das ist ein ziemlich großer und bedeutender Unterschied, und die Politik der USA muss diese Erkenntnis widerspiegeln.

Ein ebenso entscheidender Unterschied ist, dass die Sowjetunion eine Weltmacht (und eine Zeit lang wohl eine Supermacht) mit entsprechenden globalen Ambitionen und Fähigkeiten war. Sie kontrollierte ein Imperium in Osteuropa und pflegte Verbündete und Kunden in der ganzen Welt, auch an so weit entfernten Orten wie Kuba, Vietnam und Angola. Die UdSSR konkurrierte auch intensiv mit den Vereinigten Staaten um Einfluss in all diesen Gebieten. Im Gegensatz dazu ist Russland lediglich eine regionale Macht mit sehr begrenzter überregionaler Reichweite. Die Ambitionen des Kremls konzentrieren sich stark auf das nahe Ausland und zielen darauf ab, das Vordringen der Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO) nach Osten und das Eindringen der USA in Russlands zentrale Sicherheitszone zu verhindern. Die Ausrichtung scheint eher defensiv als offensiv zu sein.

Es wäre schwierig für Russland, mehr als eine geographisch sehr begrenzte expansionistische Agenda zu verfolgen, selbst wenn es eine hätte. Die Sowjetunion war die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, gleich nach den Vereinigten Staaten. Die russische Wirtschaft ist ungefähr so groß wie die Kanadas und gehört nicht einmal mehr zu den zehn größten der Welt. Außerdem hat es nur drei Viertel des Territoriums der Sowjetunion (ein Großteil davon ist das fast leere Sibirien) und kaum die Hälfte der Bevölkerung der alten UdSSR. Als wäre das nicht genug, schrumpft diese Bevölkerung und leidet unter einer Reihe von Gesundheitsproblemen (insbesondere unter dem grassierenden Alkoholismus).

Alle diese Faktoren sollten deutlich machen, dass Russland kein glaubwürdiger Rivale, geschweige denn eine existenzielle Bedrohung für die Vereinigten Staaten und ihr demokratisches System ist. Russlands Macht ist ein blasser Schatten der Sowjetunion. Die einzige unverminderte Machtquelle ist das beträchtliche Atomwaffenarsenal des Landes. Doch während Atomwaffen die ultimative Abschreckung darstellen, sind sie für die Machtprojektion oder Kriegsführung nicht sehr nützlich, es sei denn, die politische Führung will nationalen Selbstmord riskieren. Und es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass Putin und seine Oligarchen-Unterstützer selbstmordgefährdet sind. Ganz im Gegenteil, sie scheinen darauf bedacht zu sein, immer mehr Reichtum und Vergünstigungen anzuhäufen.

Schließlich überschneiden sich Russlands Sicherheitsinteressen erheblich mit denen Amerikas – vor allem in Bezug auf den Wunsch, den radikalen islamischen Terrorismus zu bekämpfen. Würden die US-Regierungschefs nicht darauf bestehen, eine provokative Politik zu verfolgen, wie z.B. die Ausweitung der NATO bis an die russische Grenze, die Untergrabung langjähriger russischer Klienten auf dem Balkan (Serbien) und im Nahen Osten (Syrien) und den Ausschluss Russlands aus wichtigen internationalen Wirtschaftsinstitutionen wie der G-7, gäbe es relativ wenige Gelegenheiten, bei denen lebenswichtige amerikanische und russische Interessen kollidieren.

Ein grundlegender Wandel in der US-Politik ist notwendig, aber das erfordert eine grundlegende Änderung der nationalen Psychologie Amerikas. Mehr als vier Jahrzehnte lang sahen die Amerikaner in der Sowjetunion eine tödliche Bedrohung für die Sicherheit der Nation und ihre wichtigsten Werte wie Freiheit und Demokratie (und wurden dazu angehalten, sie zu betrachten). Leider fand kein mentaler Reset statt, als sich die UdSSR auflöste und ein quasi-demokratisches Russland als einer der Nachfolgestaaten entstand. Zu viele Amerikaner (einschließlich politischer Führer und Entscheidungsträger) tun so, als ob sie immer noch mit der Sowjetunion konfrontiert wären. Es wäre die ultimative tragische Ironie, wenn Amerika, nachdem es einen Krieg mit einem totalitären globalen Gegner vermieden hat, nun aufgrund eines veralteten Bildes und einer veralteten Politik gegenüber einer konventionellen, untergehenden Regionalmacht in einen Krieg stolpert. Doch wenn die US-Führer nicht sowohl ihre Denkweise als auch ihre Politik gegenüber Russland ändern, ist dieses Ergebnis eine sehr reale Möglichkeit.

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