Medizin für einen Wahnsinnigen: Ein nüchterner Blick auf Hitlers Gesundheit

Sep 24, 2021
admin

Andererseits haben seriöse Wissenschaftler berechtigte Fragen zu Hitlers Gesundheit gestellt, und in der Tat liegt ein Teil des Rätsels darin, dass es kaum aussagekräftiges Quellenmaterial gibt. Nach dem Krieg verschwanden Hitlers Krankenakten, und die einzigen Beweise, die übrig blieben, waren Aufzeichnungen seines Leibarztes und Augenzeugenberichte.

Nun aber, in ihrem neuen Buch „War Hitler Krank?“ („War Hitler krank?“) haben der Historiker Henrik Eberle und Hans-Joachim Neumann, emeritierter Professor für Medizin an der Berliner Charité, dokumentarisches Material mit moderner medizinischer Analyse kombiniert, um Mythen von überprüfbaren Fakten zu trennen. Das Buch gibt vor, nichts weniger als „schlüssige Erkenntnisse“ über Hitlers Gesundheitszustand zu bieten. Es enthüllt auch einige grausige Details über den Diktator. So wird beispielsweise behauptet, Hitler habe möglicherweise Zahnfüllungen aus Zahngold gehabt, das jüdischen KZ-Opfern entnommen wurde: Sein Zahnarzt hatte mehr als 50 Kilogramm des Materials in seinem Besitz.

Testosteron für Eva

Die beiden Autoren listen akribisch alle 82 Medikamente auf, die Hitler laut historischen Dokumenten während seiner Herrschaft einnahm. Die Liste zeigt, dass Morell mehr als bereit war, auf die Wünsche seiner Patienten einzugehen. So verabreichte er Hitler beispielsweise routinemäßig eine Lösung aus Traubenzucker und Vitaminen, um die Müdigkeit zu bekämpfen. Da Hitler Pillen und Kapseln skeptisch gegenüberstand, wurde die Lösung intravenös oder intramuskulär injiziert.

Im Jahr 1944 begann Morell, ihm Testosteron zu spritzen, insbesondere wenn Eva Braun in der Nähe war. Sie gehen auch davon aus, dass Hitler sich vor seinem Rendezvous mit Braun gelegentlich von Morell einen Extrakt aus den Samenblasen und Prostatadrüsen von Jungbullen in die Blutbahn spritzen ließ.

Morells Aufzeichnungen zeigen auch, dass der Mann, der sich für den größten militärischen Führer aller Zeiten hielt, unter mehreren alltäglichen Ängsten und Beschwerden litt. Er hatte Angst, Krebs zu bekommen. Nachdem er sich buchstäblich an die Macht geschrien hatte, war er ständig heiser und ließ sich zweimal Polypen aus den Stimmbändern entfernen. Er litt unter Bluthochdruck und chronischen Magen-Darm-Krämpfen, und er war auch relativ zimperlich. Als er sich einmal bei seinem persönlichen Friseur erkältete, tobte Hitler: „Der Mann hat seit fünf Tagen Schnupfen, und er sagt es mir nicht einmal!“

Rattengift und „Hitler-Speed“

Hitlers Verdauungsprobleme veranlassten ihn sogar, Vegetarier zu werden: Anders als die Nazi-Propagandamaschine glauben machen will, lag das nicht daran, dass der deutsche Diktator ein Tierliebhaber war. Ebenso nahm er so große Mengen eines Medikaments gegen Blähungen ein, dass einige seiner anderen Ärzte sogar vermuteten, er sei vergiftet worden. Das Medikament enthielt geringe Mengen des Nervengifts Strychnin, das seit langem als Rattengift verwendet wurde.

Als Hitler im Herbst 1944 Symptome einer Gelbsucht zeigte, entbrannte unter seinen Ärzten eine hitzige Debatte, die zweifellos von dem Wunsch angeheizt wurde, sich beliebt zu machen. Einige beschuldigten sogar ihren Kollegen Morell, Hitler vergiftet zu haben. Doch der Diktator hielt zu seinem Leibarzt, bezeichnete Morells Kritiker als „Dummköpfe“ und ließ sogar zwei von ihnen versetzen.

War Hitler ein Süchtiger?

Heute, fast sechseinhalb Jahrzehnte nach Hitlers Tod, haben Eberle und Neumann versucht, das Rätsel zu lösen, ob Morells Behandlung Hitlers tatsächlich unsachgemäß war. Durch die Analyse der Zusammensetzung und Dosierung des Medikaments, das Morell Hitler verabreichte, haben sie die Möglichkeit einer Vergiftung ausgeschlossen. Sie kommen zu dem Schluss, dass Morell mit seiner Diagnose, Hitlers Hepatitis sei durch eine Verstopfung der Gallenblase ausgelöst worden, wahrscheinlich richtig lag.

Solche Erkenntnisse könnten darauf hindeuten, dass Morell tatsächlich ein kompetenter Arzt war und nicht der „Quacksalber“ oder „Rasputin“, für den er gehalten wurde. Dieser Schlussfolgerung scheint jedoch die Tatsache zu widersprechen, dass Morell es kaum wagte, Hitler einen seiner Wünsche zu verweigern, und ihn mit einer großen Anzahl von Pillen versorgte, darunter das Aufputschmittel Pervitin. Ein solches Verhalten führte zu dem Vorwurf, Morell habe Hitler drogenabhängig gemacht – nicht unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass mehrere Mitglieder der Nazi-Elite ebenfalls drogenabhängig waren. Auch deutsche Soldaten, die an der Front kämpften, konsumierten große Mengen Pervitin, und die Droge wurde sogar Pralinen zugesetzt. Heutzutage ist die Substanz ein Bestandteil der beliebten Droge Crystal Meth, die auch unter dem verräterischen Spitznamen „Hitler-Speed“ bekannt ist.

Allerdings findet sich in Morells Aufzeichnungen nur ein einziger Hinweis darauf, dass er Hitler Pervitin verabreicht hat. Manch einer möchte glauben, dass die komplizierten Abkürzungen in Morells Aufzeichnungen oder seine Beschreibungen anderer, harmloser Mixturen nur eine Tarnung für ein Medikament sind, das die süchtig machende Droge enthält. Eberle und Neumann sind jedoch sehr skeptisch: „Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Hitler seine täglichen Besprechungen nur durchführen konnte, weil er Pervitin nahm.“ Sie stellen auch fest, dass es kaum Beweise dafür gibt, dass Hitler kokainabhängig war, wie manche vermutet haben.

Von einer Ziege gebissen?

Eberle und Neumann versuchen auch, andere Mythen zu entlarven, indem sie darauf hinweisen, wie dünn und widersprüchlich das Quellenmaterial ist, und Fragen aufwerfen, die auf medizinischen Analysen beruhen. So wird in einer Geschichte spekuliert, dass Hitlers Wutanfälle und Größenwahn lediglich die Folge einer unbehandelten Hirnhautentzündung waren. Ebenso konnten Eberle und Neumann keine Beweise dafür finden, dass Hitler ein Hoden fehlte oder dass sein Penis deformiert war, nachdem er in jungen Jahren angeblich von einer Ziege gebissen worden war.

Als „absurd“ weisen sie auch die Theorie des Historikers Bernhard Horstmann zurück, der behauptet, Hitlers Persönlichkeit sei 1918 während einer Hypnosetherapie drastisch verändert worden, weil es dem Therapeuten nicht gelungen sei, ihn aus einer Trance aufzuwecken. Als Obergefreiter im Ersten Weltkrieg war Hitler nach einem Senfgasangriff vorübergehend erblindet. Anschließend wurde er in einem Lazarett in der nordostdeutschen Stadt Pasewalk mit Hypnose behandelt.

Verschwörungstheoretiker, die das Buch von Eberle und Neumann lesen, werden von den Erkenntnissen der Autoren über Hitlers angebliche Krankheiten wahrscheinlich enttäuscht sein. Am Ende kommen sie zu dem Schluss, dass Hitler an der Parkinson-Krankheit litt und dass sein nachlassender Gesundheitszustand in den letzten Monaten vor seinem Selbstmord im April 1945 offensichtlich war. Dennoch, so schreiben sie, „litt Hitler zu keinem Zeitpunkt an pathologischen Wahnvorstellungen“. Sie kommen vielmehr zu dem Schluss, dass der Despot sich seiner Handlungen stets bewusst war: „

Fremde Ratschläge

Ungeachtet ihrer Erkenntnisse blieben Hitlers Entscheidungen bis zum Schluss impulsiv, unerklärlich und menschenverachtend. Irgendwann muss das auch Hitlers „lieber Doktor“ Morell erkannt haben. Selbst nachdem die deutsche Verteidigung an allen Fronten zusammengebrochen und der Krieg bereits verloren war, kümmerte sich Hitlers Leibarzt in Hitlers Bunker in Berlin stoisch um Blutdruck, Magenkrämpfe und Verdauungsprobleme seines Patienten. Schließlich bedankte sich Hitler auf seine Weise bei Morell. Am 21. April 1945 entließ er seinen treuen Arzt aus dem Bunker und schickte ihn mit einem seltsamen Ratschlag auf die Reise: Morell solle in seine Praxis am Kurfürstendamm zurückkehren.

Außerhalb seines Bunkers kämpften derweil die letzten Reste des deutschen Militärs gegen die Rote Armee, die sich ihren Weg ins Zentrum Berlins, der Hauptstadt des Dritten Reiches, erkämpfte.

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