Frontiers in Human Neuroscience
Das Editorial zum Forschungsthema
Morphologically Complex Words in the Mind/Brain
In den meisten Sprachen lassen sich Sätze in Wörter zerlegen, die wiederum in Einheiten zerlegt werden können, die eine eigene Bedeutung enthalten, sogenannte Morpheme (z.B., „spielen“ oder Pluralform „-s“). Morpheme sind die wichtigsten Bausteine und Werkzeuge, die wir verwenden, um Wörter zu bilden und zu verändern. Die Repräsentation von morphologisch komplexen Wörtern (flektierte, abgeleitete und zusammengesetzte Wörter) im mentalen Lexikon und ihre neurokognitive Verarbeitung sind ein intensiv untersuchtes Thema in der Psycholinguistik und den kognitiven Neurowissenschaften der Sprache. Werden morphologisch komplexe Wörter wie „player“ und „plays“ in ihre Bestandteile zerlegt (d. h. in ihren Stamm „play“ und das Pluralsuffix „-s“ oder das agentive Suffix „-er“) oder werden sie ganzheitlich verarbeitet und repräsentiert („player“ und „plays“)? Trotz umfangreicher Forschung sind viele wichtige Fragen noch unbeantwortet. Unser Forschungsthema befasst sich mit mehreren derzeit ungelösten Fragen zum zeitlichen Ablauf der morphologischen Analyse und zur Beziehung zwischen Form- und Bedeutungsinformationen beim morphologischen Parsing. Die Studien suchen auch nach Antworten auf die Fragen, wie sich Flexionen und Derivationen in der Art und Weise unterscheiden, wie sie vom mentalen Lexikon gehandhabt werden, wie zusammengesetzte Wörter erkannt und produziert werden und wie morphologisch komplexe Wörter innerhalb des bilingualen mentalen Lexikons sowie von verschiedenen klinischen Populationen verarbeitet werden.
Im Hinblick auf den zeitlichen Ablauf der morphologischen Verarbeitung und das Zusammenspiel von Form und Bedeutung gehen viele aktuelle Modelle davon aus, dass die morphologische Verarbeitung in den frühesten Stadien der Verarbeitung zunächst die Form analysiert und erst danach auf die Bedeutung der Morpheme zugegriffen wird (z.B., Rastle und Davis, 2008). Im Gegensatz dazu lieferten Feldman et al. Belege für die Ansicht, dass Bedeutungsinformationen bereits in den sehr frühen Stadien der Erkennung morphologisch komplexer Wörter ins Spiel kommen. Zwei Studien (Estivalet und Meunier; Smolka et al.), die sich mit der Rolle der semantischen Transparenz und Regelmäßigkeit in abgeleiteten und flektierten Wörtern befassen, zeigen eine Dekomposition in semantisch und phonologisch undurchsichtigen und transparenten Wörtern in zwei verschiedenen Sprachen. So wurde festgestellt, dass sowohl semantisch transparente als auch undurchsichtige Ableitungen im Deutschen auf ähnliche Weise repräsentiert und verarbeitet werden (Smolka et al.), und alle flektierten Verbalformen im Französischen zeigten während der visuellen Erkennung Dekompositionseffekte (Estivalet und Meunier), unabhängig von ihrer Regularität und phonologischen Realisierung, was Modelle der obligatorischen morphologischen Dekomposition unterstützt (z. B. Taft, 2004). Zwei Neuroimaging-Studien im Rahmen dieses Forschungsthemas haben die neuronalen Korrelate der Verarbeitung von regelmäßiger bzw. unregelmäßiger Flexion aufgeklärt, eine sehr umstrittene Frage. Unter Verwendung zeitaufgelöster Magnetoenzephalographie (MEG) mit englischen Verben fanden Fruchter et al. Priming-Effekte für visuell dargebotene unregelmäßige Reize, recht früh in der Verarbeitung, innerhalb der linken fusiformen und inferioren temporalen Regionen. Die Ergebnisse wurden dahingehend interpretiert, dass sie für ein Single-Mechanism-Modell der englischen Vergangenheitsform sprechen, bei dem selbst unregelmäßige Wörter vor dem lexikalischen Zugriff in Stämme und Affixe zerlegt werden (Stockall und Marantz, 2006), im Gegensatz zu einem Dual-Mechanism-Modell, bei dem unregelmäßige Wörter als ganze Formen erkannt werden (z. B. Pinker, 1991). Andererseits berichteten Kireev et al. bei Russisch, einer Sprache, die bisher nur sehr wenig untersucht wurde und bei der eine relativ neue Analyse der funktionellen Konnektivität im fMRI durchgeführt wurde, dass die funktionelle Konnektivität zwischen dem linken inferioren frontalen Gyrus (LIFG) und den bilateralen superioren temporalen Gyri (STG) bei der Produktion regulärer realer Verben signifikant größer war als bei irregulären Verben. Die Ergebnisse werfen ein neues Licht auf das funktionelle Zusammenspiel innerhalb des sprachverarbeitenden Netzwerks und unterstreichen die Rolle der funktionellen temporo-frontalen Konnektivität bei komplexen morphologischen Prozessen. Diese beiden Studien mit wohl unterschiedlichen Ergebnissen zeigen, dass die Debatte über die Verarbeitung regelmäßiger bzw. unregelmäßiger Formen weitergeht. Sie weisen jedoch auch auf die potenziell kritischen Einflüsse der Verarbeitungsmodalität (geschrieben vs. gesprochen) sowie der Aufgabe (Verstehen vs. Produktion) auf den Mechanismus der morphologischen Verarbeitung hin.
Wenden wir uns nun der Frage der Verarbeitung von flektierten und abgeleiteten Wörtern zu, bei der mehrere frühere Studien Unterschiede in den zugrunde liegenden neuronalen Mechanismen beobachtet haben (z.B. Leminen et al.; Leminen et al., 2013; Leminen et al., für eine Übersicht siehe z.B. Bozic und Marslen-Wilson, 2010). Service und Maury berichten von Unterschieden zwischen Ableitungen und Beugungen im Arbeitsgedächtnis (gemessen durch einfache und komplexe Aufgaben), was auf ein unterschiedliches Ausmaß an lexikalischem Wettbewerb und damit auf eine unterschiedliche lexikalische Speicherung hindeutet. Mittels kombinierter Magneto- und Elektroenzephalographie (M/EEG) definierten Whiting et al. die raum-zeitlichen Aktivitätsmuster, die das Erkennen von gesprochenen englischen Flexions- und Derivationswörtern unterstützen. Die Ergebnisse zeigten, dass die Verarbeitung gesprochener komplexer Wörter das fronto-temporale Sprachnetzwerk der linken Hemisphäre in Anspruch nimmt und, was wichtig ist, keine konzentrierte Aufmerksamkeit auf den sprachlichen Input erfordert (Whiting et al.). Unter Verwendung eines ähnlichen auditiven passiven Oddball-Paradigmas und EEG beobachteten Hanna und Pulvermuller, dass die Verarbeitung von gesprochenen abgeleiteten Wörtern durch eine verteilte Gruppe von bilateralen temporo-parietalen Arealen gesteuert wurde, was mit der bisherigen Literatur übereinstimmt (Bozic et al., 2013; Leminen et al.). Darüber hinaus wurde festgestellt, dass abgeleitete Wörter vollständige Gedächtnisspuren im neuronalen Lexikon haben (siehe z.B. Clahsen et al., 2003; Bozic und Marslen-Wilson, 2010; Leminen et al.), die automatisch aktiviert werden (siehe auch Leminen et al., 2013).
Im Bereich der kognitiven Neurowissenschaften der Sprache ist die neuronale Verarbeitung von zusammengesetzten Wörtern ein weitgehend unerforschtes Thema. Ein Artikel von Brooks und Cid da Garcia liefert daher einen wichtigen Beitrag zur Klärung dieses Themas. Ihre Aufgabe zur Benennung von Grundwörtern zeigte dekompositionelle Effekte beim Zugang zu transparenten und undurchsichtigen Verbindungen. In den MEG-Ergebnissen zeigten der linke anteriore Temporallappen (LATL) sowie der linke posteriore superior temporale Gyrus nur für die transparenten Verbindungen eine erhöhte Aktivität. Diese Effekte wurden mit Kompositionsprozessen bzw. lexikalisch-semantischem Abruf in Verbindung gebracht. Unser Forschungsthema präsentiert auch neue Ergebnisse zur schriftlichen Produktion von Verbindungen, wobei Bertram et al. einen Ansatz vorstellten, der bei morphologisch komplexen Wörtern selten verwendet wird. Konkret untersuchten sie das Zusammenspiel zwischen zentraler Sprachverarbeitung und peripheren motorischen Prozessen während des Schreibens. Bertram et al. kamen zu dem Schluss, dass zusammengesetzte Wörter anscheinend als ganze Wörter abgerufen werden, bevor mit dem Schreiben begonnen wird, und dass die linguistische Planung vor dem Schreiben nicht vollständig abgeschlossen ist, sondern in die motorische Ausführungsphase übergeht.
Im Hinblick auf das wichtige Thema der bilingualen morphologischen Verarbeitung präsentiert unser Forschungsthema drei Studien und einen Kommentar. Lensink et al. zeigten mit einem Priming-Paradigma, dass sowohl transparente (z.B. Mondschein) als auch opake (z.B. Flitterwochen) Verbindungen in der Zweitsprache (L2) in der Produktion morphologisch analysiert werden. In der zweiten Studie (De Grauwe et al.) wurde die Verarbeitung von abgeleiteten niederländischen Wörtern mit Präfixen mittels fMRI untersucht. Dabei konnte ein Priming-Effekt für L2-Sprecher im LIFG nachgewiesen werden, einem Areal, das mit der morphologischen Dekomposition in Verbindung gebracht wird. De Grauwe et al. kamen zu dem Schluss, dass L2-Sprecher transparente abgeleitete Verben eher zerlegen, als sie ganzheitlich zu verarbeiten. In seinem Kommentar zum Artikel von De Grauwe et al. erörtert Jacob den spezifischen Aspekt der Dekomposition, den das LIFG-Ergebnis widerspiegeln könnte, sowie die Frage, inwieweit die Ergebnisse auf alle Ableitungen und nicht nur auf eine bestimmte Verbklasse verallgemeinert werden können. Im dritten Artikel untersuchten Mulder et al. die Rolle der Orthographie und aufgabenbezogener Verarbeitungsmechanismen bei der Aktivierung morphologisch verwandter komplexer Wörter während der bilingualen Wortverarbeitung. Ihre Studie zeigt, dass die kombinierte morphologische Familiengröße ein besserer Prädiktor für die Reaktionszeiten (RTs) ist als die Familiengröße der einzelnen Sprachen. Diese Studie zeigt auch, dass der Effekt der morphologischen Familiengröße sowohl von semantischen als auch von orthographischen Faktoren abhängt und dass er auch von den Aufgabenanforderungen abhängt.
Zu guter Letzt zielten zwei Studien darauf ab, Einblicke in die morphologische Verarbeitung zu geben, indem sie Vernachlässigungs- und Buchstabenpositionsprobleme bei Legasthenikern untersuchten. Reznick und Friedmann schlugen vor, dass die Auswirkung der Morphologie auf die Lesemuster bei Legasthenie Hinweise darauf liefert, dass die morphologische Dekomposition prälexikalisch, in einem frühen Stadium der orthographisch-visuellen Analyse stattfindet. Anhand einer anderen Legasthenikerpopulation, den Buchstabenpositionslegasthenikern, kamen Friedmann et al. zu einer ähnlichen Schlussfolgerung, dass das morphologische Parsing in einem frühen, prälexikalischen Stadium stattfindet und dass die Dekomposition eher strukturell als lexikalisch gesteuert ist.
Zusammenfassend bietet dieses Forschungsthema einen Überblick über ein breites Spektrum von Fragen, die derzeit auf dem Gebiet der morphologischen Verarbeitung behandelt werden. Es verdeutlicht die Bedeutung morphologischer Informationen bei der Sprachverarbeitung in Wort und Schrift, wie sie durch die Vielfalt der hier vorgestellten Methoden und Ansätze untersucht wird. Die teilweise widersprüchlichen Ergebnisse in einigen Beiträgen zu unserem Forschungsthema unterstreichen auch die Notwendigkeit eines verstärkten Austauschs zwischen Forschern, die unterschiedliche Methoden, Modalitäten und Paradigmen verwenden.
Beiträge der Autoren
AL schrieb den Hauptbeitrag, ML und MB redigierten das Manuskript, HC lieferte konzeptionelle Beratung.
Erklärung zu Interessenkonflikten
Die Autoren erklären, dass die Forschung in Abwesenheit jeglicher kommerzieller oder finanzieller Beziehungen durchgeführt wurde, die als potenzieller Interessenkonflikt ausgelegt werden könnten.
Danksagungen
Wir möchten allen Autoren und Gutachtern danken, die zu diesem Forschungsthema beigetragen haben. AL wird von der Lundbeck Foundation (PI Yury Shtyrov) und der Kone Foundation finanziert. ML wird von der Academy of Finland (Grant #288880) finanziert und HC hat eine Alexander-von-Humboldt-Professur inne.
Bozic, M., and Marslen-Wilson, W. D. (2010). Neurokognitiver Kontext für morphologische Komplexität: Dissoziierung von Flexion und Derivation. Lang. Ling. Compass 4, 1063-1073. doi: 10.1111/j.1749-818X.2010.00254.x
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