Die Macht der Sprache: Wir übersetzen unsere Gedanken in Worte, aber Worte beeinflussen auch die Art und Weise, wie wir denken
Haben Sie sich in Ihrer Studienzeit oder später im Leben jemals Sorgen gemacht, dass Ihnen die Zeit zum Erreichen Ihrer Ziele davonlaufen könnte? Wenn ja, wäre es dann einfacher, dieses Gefühl anderen zu vermitteln, wenn es ein Wort gäbe, das genau das bedeutet? Im Deutschen gibt es das. Das Gefühl der Panik, dass einem die Zeit davonläuft, nennt man Torschlusspanik.
Das Deutsche hat eine reiche Sammlung solcher Begriffe, die oft aus zwei, drei oder mehr Wörtern bestehen, die zu einem Superwort oder zusammengesetzten Wort verbunden sind. Zusammengesetzte Wörter sind besonders mächtig, weil sie (viel) mehr sind als die Summe ihrer Teile. Torschlusspanik zum Beispiel setzt sich wörtlich aus „Tor“-„Schließen“-„Panik“ zusammen.
Wenn Sie etwas verspätet zum Bahnhof kommen und die Türen Ihres Zuges noch offen stehen, haben Sie vielleicht eine konkrete Form von Torschlusspanik erlebt, ausgelöst durch das charakteristische Piepsen, wenn sich die Zugtüren zu schließen beginnen. Aber dieses zusammengesetzte Wort der deutschen Sprache hat mehr als nur eine wörtliche Bedeutung. Es ruft etwas Abstrakteres hervor und bezieht sich auf das Gefühl, dass das Leben die Tür der Möglichkeiten mit der Zeit immer mehr schließt.
Auch im Englischen gibt es viele zusammengesetzte Wörter. Einige verbinden eher konkrete Wörter wie „Seepferdchen“, „Schmetterling“ oder „Rollkragenpullover“. Andere sind abstrakter, wie „backwards“ oder „whatsoever“. Und natürlich sind auch im Englischen Zusammensetzungen Superwörter, wie im Deutschen oder Französischen, da sich ihre Bedeutung oft von der Bedeutung ihrer Bestandteile unterscheidet. Ein Seepferdchen ist kein Pferd, ein Schmetterling ist keine Fliege, Schildkröten tragen keine Rollkragenpullis usw.
Eine bemerkenswerte Eigenschaft von zusammengesetzten Wörtern ist, dass sie sich überhaupt nicht gut von einer Sprache in eine andere übersetzen lassen, zumindest wenn es darum geht, ihre Bestandteile wörtlich zu übersetzen. Wer hätte gedacht, dass ein „carry-sheets“ ein Portemonnaie – porte-feuille – ist, oder dass ein „support-throat“ ein BH – soutien-gorge – im Französischen ist?
Dies wirft die Frage auf, was passiert, wenn sich Wörter nicht ohne weiteres von einer Sprache in eine andere übersetzen lassen. Was passiert zum Beispiel, wenn ein deutscher Muttersprachler versucht, auf Englisch mitzuteilen, dass er gerade einen Schwall Torschlusspanik hatte? Natürlich wird er auf Umschreibungen zurückgreifen, d. h. er wird eine Geschichte mit Beispielen erfinden, damit sein Gesprächspartner versteht, was er zu sagen versucht.
Aber das wirft eine andere, größere Frage auf: Haben Menschen, die Wörter haben, die sich einfach nicht in eine andere Sprache übersetzen lassen, Zugang zu anderen Konzepten? Nehmen wir zum Beispiel hiraeth, ein wunderschönes walisisches Wort, das dafür bekannt ist, im Grunde unübersetzbar zu sein. Hiraeth soll das Gefühl ausdrücken, das mit der bittersüßen Erinnerung verbunden ist, etwas oder jemanden zu vermissen und gleichzeitig dankbar für deren Existenz zu sein.
Hiraeth ist keine Nostalgie, es ist keine Angst, keine Frustration, keine Melancholie und kein Bedauern. Und nein, es ist kein Heimweh, wie Google translate glauben machen will, denn hiraeth drückt auch das Gefühl aus, das man empfindet, wenn man jemandem einen Heiratsantrag macht und er abgelehnt wird, was kaum ein Fall von Heimweh ist.
Unterschiedliche Worte, unterschiedliche Gemüter?
Das Vorhandensein eines walisischen Wortes, das dieses besondere Gefühl ausdrückt, wirft eine grundsätzliche Frage zu den Beziehungen zwischen Sprache und Denken auf. Diese Frage, die bereits im antiken Griechenland von Philosophen wie Herodot (450 v. Chr.) gestellt wurde, tauchte Mitte des letzten Jahrhunderts auf Anregung von Edward Sapir und seinem Schüler Benjamin Lee Whorf wieder auf und wurde als linguistische Relativitätshypothese bekannt.
Die linguistische Relativitätstheorie besagt, dass die Sprache, die nach überwiegender Meinung aus dem menschlichen Denken hervorgeht und dieses ausdrückt, auf das Denken zurückwirken und dieses wiederum beeinflussen kann. Könnten also verschiedene Wörter oder verschiedene grammatikalische Konstruktionen das Denken von Sprechern verschiedener Sprachen unterschiedlich „formen“? Da diese Idee recht intuitiv ist, hat sie in der Populärkultur großen Erfolg gehabt, zuletzt in einer recht provokanten Form im Science-Fiction-Film Arrival.
Auch wenn die Idee für einige intuitiv ist, wurden übertriebene Behauptungen über das Ausmaß der Wortschatzvielfalt in einigen Sprachen aufgestellt. Diese Übertreibungen haben berühmte Sprachwissenschaftler dazu verleitet, satirische Essays zu schreiben, wie z. B. „the great Eskimo vocabulary hoax“, in dem Geoff Pullum die Fantasie über die Anzahl der Wörter anprangert, die von Eskimos für Schnee verwendet werden. Unabhängig von der tatsächlichen Anzahl der Wörter für Schnee im Eskimo geht Pullums Pamphlet jedoch nicht auf eine wichtige Frage ein: Was wissen wir tatsächlich über die Wahrnehmung von Schnee durch Eskimos?
So vehement die Kritiker der linguistischen Relativitätshypothese auch sein mögen, die experimentelle Forschung, die nach wissenschaftlichen Beweisen für die Existenz von Unterschieden zwischen Sprechern verschiedener Sprachen sucht, hat begonnen, sich in einem stetigen Tempo zu vermehren. So hat Panos Athanasopoulos von der Universität Lancaster die erstaunliche Beobachtung gemacht, dass das Vorhandensein bestimmter Wörter zur Unterscheidung von Farbkategorien Hand in Hand mit der Wertschätzung von Farbkontrasten geht. So weist er darauf hin, dass griechische Muttersprachler, die unterschiedliche Grundbegriffe für helles und dunkles Blau haben (ghalazio bzw. ble), dazu neigen, die entsprechenden Blautöne als unterschiedlicher zu betrachten als englische Muttersprachler, die denselben Grundbegriff „blue“ verwenden, um sie zu beschreiben.
Wissenschaftler wie Steven Pinker aus Harvard sind jedoch unbeeindruckt und argumentieren, dass solche Effekte trivial und uninteressant sind, weil die an den Experimenten beteiligten Personen wahrscheinlich Sprache in ihrem Kopf verwenden, wenn sie Urteile über Farben fällen – ihr Verhalten wird also oberflächlich von der Sprache beeinflusst, während jeder die Welt auf die gleiche Weise sieht.
Um in dieser Debatte voranzukommen, müssen wir meiner Meinung nach näher an das menschliche Gehirn herankommen, indem wir die Wahrnehmung direkter messen, vorzugsweise in dem kleinen Bruchteil der Zeit, der dem mentalen Zugang zur Sprache vorausgeht. Das ist jetzt dank neurowissenschaftlicher Methoden möglich, und – unglaublich – die ersten Ergebnisse sprechen für die Intuition von Sapir und Whorf.
Es kann also durchaus sein, dass unterschiedliche Wörter unterschiedlich strukturierte Gehirne bedeuten, ob man will oder nicht. Aber wenn man bedenkt, dass jeder Verstand auf der Erde einzigartig und unverwechselbar ist, dann ist das nicht wirklich ein Wendepunkt.